Auf die Beziehungen, die Schieles Werk zum Ideengut der Psychologie seiner Zeit unterhält, ist bereits in früheren Untersuchungen hingewiesen worden. So wurde zum Beispiel Schieles Auffassung der Künstlerpersönlichkeit mit den Positionen Ernst Machs (1838-1916) zur Identität des "modernen Menschen" verglichen, welche der Physiker und Sinnespsychologe in engem Zusammenhang mit seiner empiriokritizistischen Auffassung des Bewusstseins entwickelte.
Vorliegender Aufsatz setzt sich nun zum Ziel diesen Ansatz weiter zu vertiefen. Dazu werden in einem ersten Schritt Schieles ästhetische Betrachtungen zur Identität des Künstlers sowie seine Prinzipien der künstlerischen Tätigkeit in Bezug zu den Positionen der psychologischen Ästhetik seiner Zeit untersucht. Diese sind vor allem durch die Herbart-Schule vertreten, die sich direkt an die Konzepte der Psychologen anlehnt. Daran anschließend wird in einem zweiten Schritt gezeigt wie Schiele in seiner persönlichen Ästhetik die vorherrschenden Charakteristika aus den damals gängigen psychologischen Positionen und ihrer bereits bestehenden Anwendung im ästhetischen Bereich individuell umsetzt.
Die Positionen der psychologischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts vor allem die der Herbart-Schule, bieten einen Interpretationsansatz bezüglich der Arbeit des "modernen Künstlers", worunter ein Avantgardist des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen ist. Der "moderne Künstler" befasst sich mit seinen Eindrücken und inneren Wahrnehmungen, welche ihm das Material für seine Arbeit stellen. Seine Vorgehensweise nähert sich so derjenigen der "mentalistischen Psychologen" an. Der Künstler konstruiert folglich seine Seele, sein Innenleben mit Hilfe von Vorstellungsreihen und definiert seine Aufgabe als Produktion von Vorstellungen in Form von ästhetischen Zeichen. Er macht seine Vorstellungen durch Entäußerung sichtbar, denn diese mentalen Objekte können den "mentalistischen Psychologen" zufolge "durch einen momentanen, unmittelbaren, sensorischen Akt zur Verfügung gestellt werden" (Th. Ribot, 1879).
Die Deformation der Formen, wie sie in der Produktion des "modernen Künstlers" erscheint, ist eine Visualisierung des Kampfes zwischen den Vorstellungen. Sein Werk verbindet Diagramme dieses Kampfes und erzeugt so "schwierige" bzw. "nicht geläufige", ja "defamiliarisierte" Formen. Die Arbeit des "modernen Künstlers" besteht in der Spezifizierung der Formen des künstlerischen Ausdrucks, welche die qualis, die "differentiellen Qualitäten" der Objekte in den Vordergrund stellt. Anders gesagt besteht seine Arbeit darin, die Verzerrung und Verformung der Vorstellungen, die er in seiner "inneren Werkstatt" (C. Fiedler, 1887) produziert, sichtbar zu machen. So lässt sich Schieles Werk als bildliche Darstellungen dieser Tätigkeit verstehen. Es stellt die Psyche des "modernen Künstlers" dar.
Dieser im Band II des ESJB erscheinende Artikel basiert auf dem Vortrag, den Sergueï Tchougounnikov und Eva Werth am 14. Juni 2012 auf dem 1st International EGON SCHIELE RESEARCH SYMPOSIUM in Neulengbach gehalten haben.
>> Programm des 1st ESRS Neulengbach 2012, PDF